Die Versuchung des Verzweifelns

von Felix Kleinwaechter

zurück

 

 

 


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

Es gäbe in der Tat keine bessere Gelegenheit, komplett zu verzweifeln und sich das Leben zu nehmen als diese Zeit, diesen Weltzustand und diesen allgemeinen Lauf der Dinge. Aber, frage ich euch, wer will schon verzweifeln? Wer belügt sich nicht lieber mit tausend Selbstbetrügen, absurden Sicherheitsgefühlen und Rechtschaffenheitsgedanken? Zu glauben, dass es alle täten, die man um sich herumsieht und vielleicht wegen ihrer Lebensführung verachtet, ist sicher richtig. Sie wissen es nur nicht, viele haben den  Zeitpunkt ihres Absprungs in den Strom der Nichtigkeit bereits vergessen, und jeglicher Antrieb ist ihnen verlorengegangen. Die tumbe Masse, möchte man allerdings vermuten, hat die Möglichkeit einer zweiten Dimension hinter der Fassade ihrer Alltäglichkeit und Grausamkeit nie geahnt und wird niemals die Unwichtigkeit unserer sogenannten „Realität„ verstehen können.

Gehen wir mal von der allernötigsten Basis aus: Du bist ein Mensch. Menschen, das sind jene Wesen, die objektiv einen Planeten namens Erde bevölkern, der wiederum in einem wahrscheinlich unendlichen Universum voller unerklärlicher Mechanismen schwebt. Du, Mensch, bist ein Teil dieses universalen Mechanismus. Nun ist aber nicht alles unbeweglich und im Moment gefangen, sondern angetrieben von einem rätselhaften Uhrwerk, genannt „die Zeit„. Dieses Uhrwerk, so scheint es, ist das einzige unvergängliche Prinzip, dem wir uns, auf welche Weise sei dahingestellt, zu unterwerfen haben. Wer darüber nachdenkt, kann der Meinung sein, es ist gleichzeitig Schöpfer all unserer Ängste, andererseits aber auch unsere einzige wahre Hoffnung. Jedenfalls kann die Zeit auch als Schöpfer der Menschheitsgeschichte angesehen werden. Das Leben der Menschheit ganz früh nach Ihrem Erscheinen auf der Erde ist ein dunkles Kapitel, nur von purem Überlebenskampf geprägt. So scheint es zumindest. Doch wer kann schon mit Sicherheit bestimmen, ob nicht auch unter den Höhlenmenschen derselbe Widerspruch zwischen Geist und Realität herrschte wie in unserer, so fortgeschrittenen Gegenwart? Die Zeit tickt. Nach hartem Überlebenskampf hat sich der Homo Sapiens, seltsam aussehender König der Erde, durchgesetzt. Wahrscheinlich mussten die Menschen alle zusammenstehen, um einen blutigen Volkskrieg gegen die Neandertaler zu gewinnen, die vielleicht intelligenter als die Menschen waren, jedoch nie auf die Idee gekommen wären, derart perfide Killer-Strategien wie Homo Sapiens aufbauen zu können. Das Rad der Geschichte dreht sich. Die ganze Weltgeschichte zieht vorbei, und wir können sie jetzt, im Jahre 2000, mehr oder weniger authentisch in Büchern nachlesen und sie uns in Filmen ansehen. Vielleicht lesen wir etwas über das römische Reich, legen das Buch weg, sagen: „Aha, also so war das damals„, machen uns auf den Weg und stolpern durch einen weiteren Tag in unserer alles beherrschenden Neuzeit. Es wird gesagt, der Mensch habe sich im Laufe der Zeit ungeheuer weiterentwickelt, er habe sich selbst immer weiter verbessert, um so nach harter Arbeit, den dazu nötigen Mengen Blut und Leidens, sich in das Entwicklungsstadium zu pushen, in dem wir uns nun befinden: Es ist die Zeit des globalen Turbo-Kapitalismus, und der Mensch ist nun endlich aus seinen alten Verhaltensmustern ausgebrochen: Früher wurden Kriege noch primär aus herrschaftsansprüchlichen Interessen oder religiösem Wahnsinn geführt (ja es kam sogar vor, daß die Zivilbevölkerung nicht mitabgeschlachtet wurde), furchtbar kindischer Aberglaube herrschte, die Aufklärer hatten es schwer, dagegen anzukommen. Aber nun: Die westliche Welt scheint endgültig aufgeklärt zu sein und handelt endlich rational.  Führt ein westliches Land Krieg, so geschieht das natürlich nur aus absolut rationalen Gründen, Krieg müsste nicht geführt werden, gäbe es nicht  noch Länder auf dieser Erde, die den Weg in die Aufklärung noch nicht gefunden haben, die noch mehr oder weniger dunklem Aberglauben verhaftet sind und den Weg ins verhießene Land der westlichen Mentalität noch nicht gefunden haben. Der Westen führt keine heiligen Kriege. Der Westen führt vernünftig begründbaren Hightech-Selbstschutz durch. Da aber dies alles ein Selbstbetrug ist, und der Mensch ohne Glauben nicht auskommt, recht wahrscheinlich aus dem Grunde, dass die Mehrzahl zu faul ist, ihren eigenen Glauben zu erforschen, hat man sich nun, im Zuge dieses wunderbaren Vorganges namens Globalisierung (man könnte es auch Uniformisierung oder feindliche Übernahme nennen), auf den gnädigen Götzen der Liberalität und freien Marktwirtschaft geeinigt, nämlich das Geld. Auch unsere Kriege sind deswegen sozusagen heilig, nur würde das niemals ein Politiker aussprechen: Sie werden zu Ehren und Erhalt des einen Übergottes geführt, zum Erhalt der Wirtschaft und des Geldes.

Gott Geld verspricht: Verehre mich, und unter uns, wenn du mich wirklich verehrst, dann brauchen wir nur uns zwei und niemanden anderen. Verehre mich, und du wirst keine Angst vor nichts mehr haben müssen, weil du mich hast. Du brauchst nicht irgendeinen anderen Glauben, nur immer mehr von mir. Wie du immer mehr von mir bekommst, siehe, ich lege dir tausend Pfade offen: Gehe an die Börse und handle mit mir. Verkaufe alle deine Prinzipien (hast du welche?), und du wirst Macht besitzen. Ich weiß, daß du Macht willst, weil ich weiß, daß du Angst hast. Du hast Angst vor deinem wahren Selbst, und ich kann dich davon erlösen. Und siehe, die Welt ist nun einmal so, wie sie ist, und du kleiner Mensch wirst das niemals ändern können. Also glaube an mich, denn ich verspreche dir, dein Leben wird zumindest erträglich werde allein durch meine Anwesenheit. Du hast keine andere Hoffnung!
Was also bleibt armen, übriggebliebenen und überflüssigen Menschen übrig, die sich nicht damit abfinden wollen und können, ihr ganzes Selbst an den Glauben der Mehrheit zu verschenken? Läuft es nicht darauf hinaus, dass wir von Anfang an in eine perfekt funktionierende Mühle geschickt werden, vor der es zwar nach geltendem Gesetz (wir leben in einer Demokratie, oder zumindest sagt man so) viele Fluchtmöglichkeiten gibt, nach ungeschriebenem Gesetz aber praktisch keine? Ich meine damit: Was bringt eine Verfassung, die die Freiheit und das Glück für jeden Einzelnen garantieren soll, wenn dieser Einzelne dem Verlauf der Welt einfach nicht folgen will, kein seelenloses Rädchen in diesem wahnsinnigen Feuerrad werden will? Keine Verfassung der Welt kann sie wirklich von ihrem Lauf abhalten.
Hinzu kommt, daß jene, die anders sind, fast immer mit quälenden Selbstzweifeln zu kämpfen haben: das ist auch klar, denn wer sich komplett gegen das stellt, was die Mehrzahl der Anderen für selbstverständlich hält, hinterfragt von Natur aus. Könnte es nicht so sein, daß die momentane Lage der Welt, in all ihrer irrsinnigen Schrecklichkeit, gar nicht irrsinnig und eine Fehlentwicklung ist, sondern der festgeschriebene, unausweichliche Lauf der Dinge? Könnte es nicht sein, daß jedes wunderbare, unwidersprechlich wahre Empfinden, daß aller Geist, der nach höherem strebt, daß Liebe, Mitleid und Zauber, einfach alles, was uns etwas bedeutet, nur todtraurige Auswüchse des menschlichen Gehirns sind, die keine Zukunft haben? „Gute Frage„, sagt der kleine Mann im Ohr, und flüstert einem, ganz leise, zu: „Schau dich doch mal um!„.

Also gut, man schaut sich um, man kann ja nicht anders. Und auf einmal, verdammt noch mal, kommt einem der Gedanke: Evolutionär gesehen könnte es sein, daß wir tatsächlich fortschrittlich sind. Hat die Natur vor dem Erscheinen des Menschen jemals irgendein gefühlsduseliges Brimborium notwendig gehabt? Nein, es ging immer volldrauf, full speed, Konkurrenzkampf, Tod, Neuentwicklung, Anpassung. Keine Zeit für Muse oder so einen Quatsch. Liebe? Niemals! Nichts als purer, notwendiger Sex! Mitleid? Höchstens unter Artgenossen (die Natur scheint dies mittlerweile, Beispiel Mensch, für nicht mehr notwendig befunden zu haben). Und warum sollte also, wenn es nun einmal schon immer so gelaufen ist, der Mensch von seinem vorgeschriebenen Weg abweichen, sich hinsetzen und nachdenken? Er hat seinen Platz einzunehmen, und momentan ist er in seiner höchstmöglichen Entwicklungsstufe: Er hat sich vermehrt wie die Karnickel und sitzt breit, fett und zufrieden grinsend auf praktisch jedem freien Flecken der Erde. Natürlich wird er untergehen. Es ist letztlich alles so gewollt. Die Leute, die wir nicht verstehen können, die sich voll und ganz anpassen und niemals reflektieren, sie sind die wahren Mustermenschen! Sie haben alles abgelegt, was der Ausbreitung der Menschheit seit jeher lästig und hinderlich war: Echte, wahre, tiefe Gefühle! Neugier, Selbstanalyse, Eigensinn! Sie hören anders, sie sehen anders, sie empfinden vollkommen anders! Einzig ist ihre mumifizierte Seele randvoll mit der Illusion des Geldes erfüllt! Das Schlimme daran ist: Sie sind gesund, und wir sind krank! Sie haben, zumindest in begrenztem Rahmen Zukunft, wir haben gar keine! Wir sind Träumer und Idealisten, die Welt nicht! Das ganze Universum feiert seit dem Urknall nichts weiter als eine gigantische Weltuntergangsparty! Wir sind nicht wirklich erwünscht!

Nichts von alledem kann widerlegt werden. Ich kenne einige Leute, die so denken und an dieser Denkweise hängengeblieben sind, sie ist ihnen nur ein Vorwand, sich nicht weiter zu bemühen, sich zurücklehnen und sich gedanklich dauernd mit ihrem Leiden selbst zu befriedigen, es törnt sie nämlich im Grunde an. Ich weiß auch nicht mehr, woher denn auch? Aber ich weiß, daß wir uns niemals selbst verschließen sollten, und das ist schwer, verdammt schwer. Nur die schlimmste Verzweiflung kann uns überhaupt die Möglichkeit geben, auch unglaublich glücklich zu sein. Wer sich gegen das Allgemeine stellt, lebt nicht mehr in dieser halbwarmen Brühe, in der es keine echte Leidenschaft mehr gibt. Deswegen muß man ab und zu an solchen absolut schwarzen Gedanken herumbasteln, nur um sie nachher, beim Hören eines bestimmten Songs, beim Anblick eines Baumes, einer Wiese, bei einem leidenschaftlichen Kuss oder bei einer Fahrt durch eine warme, geheimnisvolle Nacht als vollkommen ungenügend zu verwerfen. Die Tragödie ist nicht die Welt da draussen, die Welt ist so, wie sie ist, warum auch immer. Die wahre Tragödie wäre der Verlust dieser Momente, in denen die Seele überdimensional von allem Begriff zu nehmen scheint, in denen das große Geheimnis des eigenen Lebens in all seiner Unbegreiflichkeit einem vollkommen den Atem nimmt. Dieses Empfinden ist extrem von der äusseren Welt abhängig (die deswegen vielleicht eine Innere ist) und macht sie unersetzlich. Dieses Gefühl ist das, was ich „Flow„ nenne. Es ist ein Stück unmittelbar erlebtes Fliessen im Strom des Universums, es ist ein kurzes Erkennen, dass man gar nichts erkennt, aber daß das letztendlich gar nicht schlimm ist. Du bist ein unauswechselbarer Teil, ein kleines, für Millionstel Sekunden aufblitzendes Sternchen im alles beherrschenden Rauschen des Göttlichen, der Wahrheit. Diese Wahrheit fühlt sich so unglaublich an, sie ist so wenig gedacht und überlegt aber so stark empfunden und gefühlt, daß du weist, du wirst sie nie ganz kennen und dass wohl auch gar nicht wollen, aber sie ist in ihrer Erhabenheit unanzweifelbar. Sie ist schöner, trauriger, lustiger, absurder, wunderbarer als man je begreifen könnte, und sie hat einen Sinn, der zu verstehen für immer unmöglich sein wird, weil verstehen alles Sein vernichten würde. Unser Schicksal ist traurig und auch gleichzeitig wunderbar. Es wird ganz sicher zu nichts führen, sich ihm entgegenzustellen, egal wohin es dich oder mich einmal führen wird, wenn wir den Mut haben, es anzunehmen. Wer verzweifelt, muß entweder den Weg der Masse einschlagen und irgendwie versuchen alles zu vergessen, was ihm vorher wichtig war, oder sich umbringen. Beides ist nicht besonders angenehm, und wer kann es schon mit wirklich gutem Gewissen tun, ohne vorher alles, aber auch alles probiert zu haben?
 

Ende

zurück
 
 

zurück